Der nachfolgende Artikel beschreibt ausführlich warum die 90/180-Tage-Regelung bei freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen von EU-Bürgern nicht angewendet werden kann.

Zusammenfassung: Familienangehörige dürfen sich für mehr als 90 Tage pro 180 Tage im Schengenraum aufhalten, solange diese von einem EU-Bürger begleitet werden bzw. mit einem EU-Bürger zusammen reisen. Hierbei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass in den meisten Fällen nach 90 Tagen (in einem einzelnen Mitgliedsstaat) eine Wohnsitznahme bzw. Registrierung bei den Behörden notwendig wird.

Update: Zwischenzeitlich wurde auch die Seiten von Your Europe entsprechend überarbeitet:

Quelle: https://europa.eu/youreurope/citizens/travel/entry-exit/non-eu-family/index_en.htm

Der Sprachnachweis als Einwanderungshemmnis

Die Europäische Kommission definiert Rassismus als das Gefühl der Überlegenheit aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Sprache oder der ethnischen Herkunft gegenüber Personen oder Gruppen, sowie die daraus resultierende Diskriminierung und Benachteiligung. Es handelt sich um eine Form der Ungleichbehandlung, die auf Vorurteilen und Stereotypen basiert und sowohl individuelle als auch strukturelle Dimensionen aufweist. Rassismus kann sowohl offen als auch subtil auftreten und hat negative Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft, indem er die Würde wie auch die Rechte der betroffenen Personen verletzt und zu sozialer Ausgrenzung und Ungerechtigkeit führt.

Die Forderung nach einem Sprachnachweis als Bedingung für die Einreise eines Ehepartners der eigenen Staatsbürger offenbart nicht nur die Annahme einer solchen höheren Wertigkeit einer bestimmten Sprache, sondern impliziert auch eine inhärente Diskriminierung gegenüber den Betroffenen, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Bildung nicht über die notwendigen sprachlichen Fähigkeiten verfügen, um diese Anforderung zu erfüllen – eine verhängnisvolle Verkennung der menschlichen Natur und ein Missbrauch der Macht des Staates, der die Freiheit des Individuums und dessen Würde verletzt.

Tatsächlich gibt es auch keine wissenschaftlichen Nachweise, die belegen, dass ein Sprachnachweis tatsächlich zu einer verbesserten Integration führt oder Zwangsehen verhindert. Vielmehr wird eine erfolgreiche Integration in vielen Fällen über Jahre hinweg verhindert, da die Ehepartner an einer Einreise gehindert werden.

Grundsätzliches zur 90/180 Tage-Regelung bei Schengen-Visa

Die 90 Tage innerhalb von 180 Tagen Regelung gilt grundsätzlich für alle Touristen und „normalen“ Antragsteller bei einem Visum für den Schengenraum. Diese Regelung ist einer Höchstaufenthaltsdauer von drei Monaten in einem Mitgliedsstaat geschuldet. Auch andere EU-Bürger sind verpflichtet sich bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten in dem betreffenden Mitgliedsstaat zu registrieren bzw. einen Wohnsitz anzumelden.

(1)  Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.

Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG

Wenn ein direkter Familienangehöriger (wie z. B. ein Ehepartner oder ein Kind) zusammen mit einem Unionsbürger in einen anderen Mitgliedsstaat (nach)reist so ist die die Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) ausschlaggebend.

Mit einem anderen Mitgliedsstaat sind EU-Mitgliedsstaaten gemeint, dessen Staatsbürgerschaft der Unionsbürger nicht besitzt. Mit Unionsbürger ist demnach stets ein EU-Bürger eines anderen EU-Mitgliedsstaats gemeint.

(2)  Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.

Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG

Auch ein Aufenthalt von mehr als drei Monaten ist für direkte Familienangehörige nach einer Registrierung bzw. Wohnsitznahme im jeweiligen Mitgliedsstaat problemlos möglich.

Als Richtlinie wurden diesen Regelungen von allen Mitgliedsstaaten in nationales Recht (nationale Gesetze) übernommen.

90/180-Tage-Regelung für Familienangehörige

Aufgrund der Freizügigkeitsrichtlinie ist eine Beschränkung aufgrund der 90/180-Tage-Regelung bei Familienangehörigen nicht statthaft, sofern ein anderer Mitgliedsstaat aufgesucht wird.

Ein praktisches Problem hierbei dürfte jedoch eine fehlende gemeinsame Visastelle sein, so wird jedes Visum stets vom jeweiligen Aufnahmemitgliedsstaat ausgestellt (auf maximal 90 Tage) begrenzt.

Für einen Aufenthalt von mehr als 90 Tagen in diesem Mitgliedsstaat müsste sich der Unionsbürger zusammen mit dem Familienangehörigen bei den lokalen Behörden registrieren bzw. bei der Meldebehörde anmelden. Die Familienangehörigen genießen in dieser Konstellation ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht.

In der Theorie wäre es aber auch denkbar in den Heimatstaat (oder einen anderen Drittstatt) nach einem Aufenthalt von 90 Tagen zurückzukehren und sodann sofort ein neues 90-Tage-Visum für einen anderen Mitgliedsstaat der EU zu beantragen.

Eine Nichterteilung dieses Visum – aufgrund der 90/180-Tage-Regelung – wäre ein Verstoß gegen die Freizügigkeitsrichtlinie.

Es ist schwierig zu diesem Thema „offizielle“ Informationen zu erhalten. Ich konnte jedoch nach längerer Recherche dennoch Informationen finden:

Quelle: https://www.mzv.cz/jnp/en/information_for_aliens/short_stay_visa/family_member_of_an_eu_citizen_1/index.html (Screenshot)

Laut diesen Vorschriften ist ein Aufenthalt mit einem abgelaufenen Schengen-Visa innerhalb von CZ für Familienangehörige von Unionsbürgern (mit einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht) bei einem Aufenthalt von bis zu 3 Monaten (danach muss eine Registrierung erfolgen) legal möglich.

Diese Regelung basiert natürlich – wie oben ausgeführt – auf EU-Recht, d. h. dies sollte auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten kein Problem sein (außer dem Heimatstaat des EU-Bürgers).

Daher habe ich auch die Bundespolizei in Deutschland zu diesem Thema befragt und folgende Antwort erhalten:

Bitte führen Sie alle Dokumente, die Ihre u. g. Aussagen belegen im Original mit. Diese werden bei der Ausreise dann geprüft. Sind die Dokumente in Ordnung und belegen Ihre Aussagen, ist die Ausreise gemäß der Freizügigkeitsrichtlinie ohne Probleme möglich.
Bitte rechnen Sie zur Überprüfung der Dokumente mit etwas mehr Zeit ein.

Bundespolizei – die Aussage ist nicht verbindlich

Ich habe mich auch noch um Antworten anderer Stellen bemüht, erhalte aber aus Unwissenheit oder anderen Gründen nur unzureichende Antworten.

Probleme

Da ein solcher Spezialfall nicht ausdrücklich im Visakodex geregelt ist (sondern nur im Grenzschutz-Hanbduch – siehe unten), könnte es zu Problemen bei der Beantragung als auch bei der Grenzkontrolle kommen. Eine Abweisung an der Grenze ist jedoch auch aus anderen Gründen nicht möglich (und unwahrscheinlich weil i. d. R. ein neues gültiges Visum vorhanden ist), die Grenzbehörden müssen Familienangehörigen die entsprechende Antragstellung direkt an der Grenze ermöglichen bzw. diese einreisen lassen, mit der Auflage sich umgehend bei der Meldebehörde anzumelden.

Es empfiehlt sich daher die entsprechende Botschaft des Aufnahmemitgliedsstaats bereits vorab zu kontaktieren.

Ein Überschreiten der Höchstaufenthaltsdauer bei direkter Weiterreise in ein anderes EU-Land könnte auch zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen, z. B. bei der Ausreise aus dem Schengen-Raum. Es wäre ggf. denkbar eine Aufenthaltskarte durch eine kurzfristige Anmeldung zu erlangen. Die Aufenthaltskarte ist jedoch nur deklaratorischer Natur, d. h. das Aufenthaltsrecht besteht jederzeit auch ohne Karte.

Hinweis: Eine Anmeldung in einem Mitgliedsstaat kann auch steuerliche und sozialrechtliche Folgen haben.

Fakt: Die 90 Tage in 180 Tage Regelung betrifft Familienangehörige von EU-Bürgern nicht

sofern die Ehepartner bzw. Familienangehörigen zusammen mit dem EU-Bürger reisen.

Drittstaatsangehörige, die Familienmitglieder von EU-, EWR- und CH-Bürgern sind, haben das Recht auf einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten in einem Mitgliedstaat, wenn sie im Besitz eines gültigen Reisepasses sind und den EU-, EWR- oder CH-Bürger begleiten oder sich ihm anschließen, ohne auf 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen beschränkt zu sein.

Es ist zu beachten, dass Drittstaatsangehörige, die Familienmitglieder von EU-, EWR- und CH-Bürgern sind, das Recht haben, den EU-, EWR- oder CH-Bürger für aufeinanderfolgende Zeiträume von bis zu drei Monaten pro Schengen-Staat ohne Bedingungen oder Formalitäten zu begleiten.

Wenn das Familienmitglied alleine reist und keine gültige Aufenthaltserlaubnis oder -karte besitzt, gelten wieder die normalen Regelungen für den Kurzaufenthalt, da die Bedingungen für die Erleichterungen hinsichtlich der freien Bewegung von EU-, EWR- und CH-Bürgern und deren Familien nicht mehr erfüllt sind.

Die vorherigen Aufenthalte im Gebiet ohne interne Grenzkontrollen, wenn sie den EU-, EWR- oder CH-Bürger begleitet oder ihm beigetreten sind, sollten bei der Berechnung der Einhaltung der 90/180-Tage-Regel, die nur für den Kurzaufenthalt gilt, nicht berücksichtigt werden.

Beispiele

Die folgenden Beispiele stammen aus dem Handbuch für Grenzschutzbeamte (pdf – englisch).

Update: Ich habe das Handbuch für Grenzschutzbeamte nun auch auf deutsch für Euch

Ein indischer Staatsbürger, der mit einem französischen Staatsbürger verheiratet ist, kann seine französische Ehepartnerin nach Deutschland für drei Monate, nach Spanien für zwei Monate und nach Italien für drei Monate begleiten und somit insgesamt für einen aufeinanderfolgenden Zeitraum von acht Monaten im Gebiet ohne interne Grenzkontrollen verbleiben.

Ein japanischer Staatsbürger ist mit einem estnischen Staatsbürger verheiratet und war noch nie zuvor in der EU. Der japanische Staatsbürger begleitet seinen estnischen Ehepartner für einen Monat nach Italien. Direkt nach diesem Monat verlässt der estnische Ehepartner Italien und kehrt nach Japan zurück, um zu arbeiten. Der japanische Staatsbürger kann alleine für weitere 90 Tage bleiben (die Grenze von 90 Tagen innerhalb von 180 Tagen beginnt mit der Rückreise des estnischen Staatsbürgers zu laufen).

Ein chinesischer Staatsbürger, der mit einem schwedischen Staatsbürger verheiratet ist, verbringt aus geschäftlichen Gründen alleine 15 Tage in Österreich. Der schwedische Ehepartner schließt sich ihm danach an und sie verbringen einen Monat in Portugal. Direkt nach diesem Monat verlässt der schwedische Ehepartner die EU. Der chinesische Staatsbürger kann alleine für die restlichen 75 Tage im Zeitraum von 180 Tagen bleiben (die Grenze von 90 Tagen in jedem Zeitraum von 180 Tagen gilt, aber der gemeinsam mit dem EU-Bürger verbrachte Aufenthalt wird nicht berücksichtigt (in diesem Beispiel der einmonatige Zeitraum).

Benötigen Familienangehörige ein Rückflugticket?

Nein, Ehepartner bzw. direkte Familienangehörige eines EU-Bürgers benötigen kein Rückflugticket, wenn diese mit einem Schengen-Visum in ein EU-Land oder innerhalb des Schengen-Raums reisen und sie sich in Begleitung des EU-Familienangehörigen befinden oder dem EU-Bürger in das betreffende EU-Land nachziehen (abgeleitetes Freizügigkeitsrecht). Dies beruht auf Artikel 5 der Richtlinie 2004/38/EG und Artikel 3 der Verordnung (EU) 2016/399.

Sollte der Familienangehörige bei der Einreise aus einem Nicht-EU-Land Probleme mit einer Fluggesellschaft haben, können diese Unternehmen bei den Luftverkehrsbehörden des EU-Ziellandes wegen Verstoßes gegen die Vorschriften für Reisedokumente gemeldet werden.

Zu diesem Zweck kann auch die folgende Website genutzt werden: https://europa.eu/youreurope/citizens/travel/passenger-rights/air/index_en.htm

Um Probleme in letzter Minute zu vermeiden, ist es in jedem Fall ratsam, sich im Voraus bei der Fluggesellschaft nach den Dokumenten zu erkundigen, die bei der Abfertigung und beim Einsteigen vorzulegen sind.

Hinweis: Schengen Visa Typ-C (für Familienangehörige mit abgeleitetem Freizügigkeitsrecht) sehen für das Check-In-Personal aus wie normale Touristenvisa. Daher wird mit hoher Wahrscheinlichkeit unzulässigerweise ein Rückflugticket gefordert. Der Hinweis unter den Vermerken ist meist in der Landessprache des ausstellenden Schengen-Landes verfasst und daher für das Personal nicht besonders aufschlussreich. Daher empfiehlt es sich die Fluggesellschaft vorab per E-Mail zu informieren und eine Bestätigung einzuholen (für das Check-in-Personal). Auch empfiehlt es sich grundsätzlich eine in der EU gültige Eheurkunde oder andere geeignete Dokumente stets mit sich zu führen.

Ausweisung

Soll gegen eine Drittstaatsangehörige eine Ausweisung verfügt werden, weil deren Ehegatte, ein Unionsbürger, von dem sie ihren Aufenthalt ableitet, den Aufenthaltsmitgliedstaat verlassen hat, dann ist diese Ausweisungsentscheidung rechtlich möglich. Allerdings finden die Verfahrensgarantien aus Art. 30 und 31 iVm Art. 15 RL 2004/38 Anwendung. Die Entscheidung bedarf der Schriftform, sie ist zu begründen, sie muss eine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten; Rechtsschutz muss möglich sein. Außerdem muss eine Frist zur freiwilligen Ausreise von mindestens einem Monat gesetzt werden (EuGH Urt. v. 10.9.2019 – EUGH Aktenzeichen C9418 C-94/18 – Chenchooliah).

BeckOK AuslR/Tewocht FreizügG/EU § 3 Rn. 4-6

Antwort der Bundespolizei betreffend die Durchreise durch Deutschland mit einem abgelaufenen Visum für Familienangehörige von Unionsbürger von einem anderen Mitgliedsstaat in einen anderen

[…]

die Aussagen der Generalkonsulate, dass keine Visa für die Binnengrenzüberschreitungen ausgestellt werden sind zutreffend. Dieses wird auch nicht benötigt, denn als Ehefrau eines deutschen Staatsangehörigen genießt sie ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht. Sie müssen lediglich in der Lage sein, durch Ihre internationale Eheurkunde ihre Verbindung belegen zu können. Lediglich bei der Ersteinreise in die EU bestünde die Möglichkeit der Ausstellung eines deklaratorischen Visums durch die Botschaften oder der Erteilung eines kostenfreies Ausnahmevisums am Ankunftsflughafen. Sie können durch Deutschland reisen oder sich in Deutschland aufhalten.

Mit freundlichen Grüßen

Im Auftrag

[…]

Antwort der Bundespolizei vom 28. August 2023
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