Der nachfolgende Artikel befindet sich noch im Entwurfsstadium und soll die Frage behandeln, ob das Rückkehrrecht in den Heimatstaat nach Ausübung der Freizügigkeitsrechte in einem anderen Mitgliedstaat durch einen zwischenzeitlichen Wegzug in einen Drittstaat erlischt oder fortbesteht.
I. Einleitung
Die Freizügigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen stellt einen Grundpfeiler des Unionsrechts dar (Art. 21 AEUV; RL 2004/38/EG). Vor allem dann, wenn Unionsbürger gemeinsam mit ihren drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, stellt sich häufig die Frage, unter welchen Voraussetzungen diesen Familienangehörigen bei der Rückkehr in den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit des Unionsbürgers ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren ist.
Ein besonderes Problem tritt auf, wenn die drittstaatsangehörigen Familienmitglieder nicht unmittelbar nach der Rückkehr des Unionsbürgers nachziehen, sondern sich zwischenzeitlich in einem Drittstaat aufhalten. Gegenstand dieser Untersuchung ist es, zu klären, ob und unter welchen Bedingungen ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat begründetes Aufenthaltsrecht erlischt oder fortbesteht, wenn eine gewisse Zeit zwischen Ausreise aus dem Aufnahmemitgliedstaat und Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat verstreicht bzw. wenn ein Umweg über einen Drittstaat genommen wird.
II. Überblick über die maßgeblichen Entscheidungen
1. Urteil Singh (C‑370/90)
Mit Urteil vom 7. Juli 1992 (C‑370/90, Singh) begründete der EuGH den Grundsatz, dass ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers auch bei dessen Rückkehr in den Heimatmitgliedstaat fortbestehen kann. Entscheidend war, dass der Unionsbürger zuvor sein Niederlassungsrecht in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich ausgeübt und dort sein Familienleben begründet hatte.
- Rn. 25 (Auszug): „Ferner ist darauf hinzuweisen, dass ein Gemeinschaftsangehöriger durch die Ausübung des Niederlassungsrechts in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, diesen Staat verlässt, um sich in dem anderen Mitgliedstaat niederzulassen. Da er aber anschließend, nachdem er dort dieses Recht ausgeübt hat, in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit zurückkehrt, wäre er davon abgehalten, dieses Niederlassungsrecht auszuüben, wenn er nicht sicher sein könnte, bei der Rückkehr in seinem Herkunftsmitgliedstaat die Möglichkeit zu haben, das Familienleben, das er im Aufnahmemitgliedstaat geführt hat, fortzusetzen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf seine Ehefrau, die Drittstaatsangehörige ist und ihn bei der Ausübung seines Niederlassungsrechts begleitet hat.“
Mit dieser Argumentation schuf der EuGH die Basis dafür, dass die Fortführung des in einem anderen Mitgliedstaat aufgebauten Familienlebens nicht durch formale Anforderungen bei der Rückkehr scheitern darf.
2. Urteil Eind (C‑291/05)
Im Urteil vom 11. Dezember 2007 (C‑291/05, Eind) konkretisierte der EuGH seine Rechtsprechung weiter. Darin ging es unter anderem um die Frage, ob ein Unionsbürger, der nur vergleichsweise geringe Kontakte zum Aufnahmemitgliedstaat hatte, bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat trotzdem ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für seine drittstaatsangehörigen Familienmitglieder beanspruchen kann.
- Rn. 35 (Auszug): „Die Weigerung, Herrn Einds Tochter das Recht zu verweigern, ihn bei seiner Rückkehr zu begleiten, würde Herrn Eind davon abhalten, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten. Eine solche Weigerung würde die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) garantiert, beeinträchtigen.“
- Rn. 36 (Auszug): „Der Umstand, dass ein Arbeitnehmer während seiner Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, tatsächlich nur geringe Kontakte zu diesem Mitgliedstaat hat, ändert hieran nichts, solange dieser Arbeitnehmer dort seine Freizügigkeit tatsächlich ausgeübt hat. Entscheidend ist vielmehr, dass die Ausübung der Freizügigkeit nicht behindert wird.“
- Rn. 45 (Auszug): „Im Hinblick auf die Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Freizügigkeit ist daher ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen, der die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt, nicht daran zu hindern, dass der Unionsbürger in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit zurückkehrt. Dieser Unionsbürger würde sich sonst möglicherweise davon abschrecken lassen, sein Recht aus Art. 39 EG tatsächlich auszuüben, wenn er keine Gewissheit hat, mit seinen nahen Verwandten erneut in seinem Herkunftsmitgliedstaat leben zu können.“
Dieses Urteil verdeutlicht, dass ein möglichst ungehindertes Verlassen und Zurückkehren integraler Bestandteil des unionsrechtlichen Freizügigkeitsgedankens ist.
3. Urteil Iida (C‑40/11)
Im Urteil vom 8. November 2012 (C‑40/11, Iida) stellte der EuGH insbesondere auf die „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) der Freizügigkeitsrechte ab. Nach Auffassung des Gerichts wäre die Ausübung der Freizügigkeit beeinträchtigt, wenn Familienangehörige eines Unionsbürgers nach dessen Rückkehr keinen fortbestehenden Anspruch auf Aufenthalt hätten.
- Rn. 70 (Auszug): „Die praktische Wirksamkeit der Freizügigkeit gebietet es, dass der Unionsbürger nicht nur im Aufnahmemitgliedstaat, sondern auch in seinem Herkunftsmitgliedstaat sein zuvor geführtes Familienleben fortsetzen kann. Dies wäre sonst nicht gewährleistet, und es bestünde die Gefahr, dass der Unionsbürger von der Ausübung der Freizügigkeit absähe, wenn er keine Sicherheit hätte, das Familienleben aufrechterhalten zu können.“
Diese Argumentation zeigt, dass ein einmal im Aufnahmemitgliedstaat entwickeltes und gefestigtes Familienleben (vgl. Eind, Rn. 35 und 36) nicht „plötzlich“ erlöschen soll.
4. Urteil O. und B. (C‑456/12)
Im Urteil vom 12. März 2014 (C‑456/12, O. und B.) bestätigte der EuGH seine frühere Linie. Gegenstand war hier die Frage, ob eine lediglich kurze Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat oder eine zwischenzeitliche Rückkehr bzw. Ausreise in einen Drittstaat dem Fortbestand eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts entgegensteht.
- Rn. 59 (Auszug): „Kurzaufenthalte wie Wochenenden oder Ferien in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, fallen – auch zusammen betrachtet – unter Art. 6 der Richtlinie 2004/38 und erfüllen nicht die genannten Voraussetzungen.“
- Rn. 63 (Auszug): „Ein Drittstaatsangehöriger, der nicht zumindest während eines Teils seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38 gewesen ist, hat in diesem Mitgliedstaat aber kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Abs. 2 oder Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 haben können. Unter diesen Umständen kann sich der Drittstaatsangehörige auch nicht auf Art. 21 Abs. 1 AEUV berufen, um bei der Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit dieser besitzt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu erhalten.“
Aus dieser Entscheidung ergibt sich, dass ein qualitativ hinreichender Aufenthalt („gewisse Zeit“) im Aufnahmestaat unerlässlich ist; rein touristische, sporadische oder zu kurze Aufenthalte genügen nicht.
III. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in O. und B.
Von besonderer Bedeutung sind zudem die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 30. Mai 2013 in der Rechtssache O. und B. (C‑456/12). Dort legte sie ausführlich dar, dass ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nicht allein deshalb erlöschen dürfe, weil zwischen Rückkehr des Unionsbürgers und Nachzug des drittstaatsangehörigen Familienmitglieds Zeit vergeht oder ein Zwischenaufenthalt in einem Drittstaat stattfindet.
- Rn. 141 (Auszug): „Die Richtlinie 2004/38 gestattet es dem Aufnahmemitgliedstaat nicht, einem Drittstaatsangehörigen wegen Zeitablaufs den Aufenthalt zu verweigern. Drittstaatsangehörige haben das Recht, den Unionsbürger, zu dem sie die in der Richtlinie bezeichneten Familienbeziehungen unterhalten, zu „begleiten oder ihm nach[zu]ziehen“ … So hat der Gerichtshof entschieden, die Richtlinie 2004/38 verlange nicht, dass der Familienangehörige eines Unionsbürgers zum selben Zeitpunkt in den Aufnahmemitgliedstaat einreise wie der Unionsbürger …“
- Rn. 159 (Auszug): „Liegt zwischen der Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und dem Nachzug des einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen in diesen Mitgliedstaat eine Zeitspanne, erlischt der Anspruch des Familienangehörigen auf ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat nicht, sofern die Entscheidung, dem Unionsbürger nachzuziehen, in Ausübung des den beiden zustehenden Rechts auf Familienleben getroffen wird.“
Hieraus folgt eindeutig, dass das Zeitmoment oder eine vorübergehende Abwesenheit nicht dazu führen soll, ein einmal begründetes abgeleitetes Aufenthaltsrecht automatisch zu beenden.
IV. Zusammenführung der Rechtsprechung: „Kein Erlöschen durch Zeitablauf“
Aus der dargestellten Rechtsprechung – insbesondere aus Singh (Rn. 25), Eind (Rn. 35, 36, 45), Iida (Rn. 70) und O. und B. (Rn. 59, 63) – lässt sich ableiten:
- Zuvor entwickeltes und gefestigtes Familienleben
Voraussetzung für ein fortbestehendes abgeleitetes Aufenthaltsrecht ist, dass der Unionsbürger und sein drittstaatsangehöriges Familienmitglied tatsächlich einen hinreichend intensiven gemeinsamen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatten. Bloße Wochenend- oder Ferienaufenthalte werden als nicht ausreichend beurteilt (Rn. 59 in O. und B.). - Fortbestand bei Rückkehr
Ein einmal dort begründetes Familienleben erlischt nicht, sobald der Unionsbürger in seinen Heimatmitgliedstaat zurückkehrt. Die Ratio der Rechtsprechung ist gerade, dass eine solche starre Beendigung des Familienlebens den Unionsbürger abschrecken könnte, seine Freizügigkeitsrechte überhaupt auszuüben (so eindeutig Singh, Rn. 25; Eind, Rn. 45). - Irrelevanz eines zeitlichen Abstands
Zwischen der Rückkehr des Unionsbürgers in seinen Herkunftsstaat und dem tatsächlichen Zuzug des drittstaatsangehörigen Familienmitglieds kann Zeit vergehen, ohne dass dies das bereits entstandene abgeleitete Aufenthaltsrecht automatisch entfallen lässt (vgl. Schlussanträge Sharpston, Rn. 159). Auch ein kurzzeitiger Umzug in einen Drittstaat führt nicht per se zum Erlöschen, wenn das Familienleben tatsächlich aufrechterhalten werden soll. - Prüfung im Einzelfall
Ob der erforderliche „qualifizierte“ Aufenthalt vorliegt und das Familienleben weiterhin besteht oder fortbestehen soll, unterliegt einer Einzelfallprüfung durch das jeweilige nationale Gericht. Der EuGH fordert insoweit eine Gesamtwürdigung.
V. Schlussbetrachtung
Beantwortung der Kernfrage:
Das Rückkehrrecht in den Heimatmitgliedstaat, das sich aus der zuvor ausgeübten Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ergibt (Art. 21 AEUV; RL 2004/38), erlischt nicht allein deshalb, weil zwischenzeitlich ein Aufenthalt in einem Drittstaat erfolgt oder eine größere Zeitspanne zwischen der Rückkehr des Unionsbürgers und dem Nachzug des drittstaatsangehörigen Familienmitglieds liegt.
Vielmehr gilt:
- Ein einmal begründetes und gefestigtes Familienleben (vgl. Eind, Rn. 35 und 36 und Iida, Rn. 70) besteht fort und vermittelt dem Unionsbürger und seinem Familienangehörigen weiterhin Rechte.
- Singh, Rn. 25 und Eind, Rn. 45 machen deutlich, dass ein Erlöschen des Aufenthaltsrechts bei Rückkehr in den Heimatstaat die Freizügigkeit des Unionsbürgers empfindlich beeinträchtigen könnte, was aus unionsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar ist.
Ergebnis:
Ein Umzug in einen Drittstaat oder der bloße Zeitablauf führt nicht zum Erlöschen eines in einem anderen Mitgliedstaat begründeten abgeleiteten Aufenthaltsrechts, sofern das Familienleben nach wie vor aufrechterhalten werden soll und die wesentlichen Voraussetzungen nach Art. 7 RL 2004/38 oder Art. 16 RL 2004/38 (in Verbindung mit Art. 21 AEUV) erfüllt sind. Damit ist hinreichend geklärt, dass das unionsrechtlich geprägte „Rückkehrrecht“ einer automatischen Beendigung durch Zeitablauf nicht unterliegt.