Familienangehörige von Unionsbürgern müssen gegenüber anderen Antragstellern stets bevorzugt behandelt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies den Ehepartner, die Kinder oder sogar die Schwester des Ehepartners betrifft.
Hinweis: Bei den letztgenannten – erweiterten Familieangehörigen – müssen zur Inanspruchnahme eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts jedoch einige Hürden (Pflegebedürftig, Unterhalt oder lebten im gemeinsamen Haushalt) erfüllt werden. Aber auch wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, wäre diese Personengruppe trotzdem bevorzugt zu behandeln. Auch darf nicht vergessen werden, dass für die Ausübung der Rechte aus der Freizügikeitsrichtlinie ein grenzüberschreitender Faktor vorliegen muss. D. h. der Ehepartner eines Deutschen der nach Frankreich zieht erhält ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht. Dies gilt auch wenn der Deutsche vorher in Frankreich gelebt hatte und zusammen mit seinem Ehepartner nach Deutschland zurückreist. Ein solches Recht erhält aber nicht der Ehepartner eines Deutschen, der sein gesamtes Leben lang nur in Deutschland gelebt und gearbeitet hat.
Nach Ansicht des Gerichtshof in der Rechtssache C‑83/11 Rahman (ECLI:EU:C:2012:519, Rn. 26) ist Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG dahingehend auszulegen, dass ein Mitgliedsstaat bei der Wahl der zu überprüfenden Kriterien zwar einen großen Ermessenspielraum hat, dieser Ermessensspielraum darf jedoch nicht die praktische Wirksamkeit des Ausdrucks „erleichtert“ aus Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG aufheben.
Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung ihrer Verpflichtung nach Artikel 3 Absatz 2, die Einreise und den Aufenthalt „jedes … Familienangehörigen“ zu erleichtern, von ihrem Ermessen „im Licht und unter Beachtung“ der Bestimmungen der Grundrechtecharta, einschließlich des Rechts auf Achtung des Familienlebens (Artikel 7) und des Wohles des Kindes (Artikel 24), Gebrauch machen (Urteil des Gerichtshofs vom 26. März 2019, SM, C-129/18, ECLI:EU:C:2019:248, Rn. 64–67). Sie müssen daher „alle aktuellen und relevanten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung sämtlicher in Rede stehenden Interessen, insbesondere der des betreffenden Kindes, ausgewogen und sachgerecht würdigen“ (Ebd. Rn. 68.).
Einreisevisa für Kurzaufenthalte sollten Familienangehörigen aus Drittstaaten so bald wie möglich in einem beschleunigten Verfahren unentgeltlich erteilt werden. Analog zu Artikel 23 des Visakodexes (KOM/2006/403 endg.) sind Verzögerungen von mehr als vier Wochen nach Ansicht der Kommission nicht tragbar. Zu einer Bearbeitungszeit für Visumanträge von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen, die 15 Tageüberschreitet, sollte es „nur in begründeten Ausnahmefällen“ kommen (C/2023/1392).Die Behörden der Mitgliedstaaten sollten die Familienangehörigen beraten, welche Art von Visum sie beantragen sollen. Sie dürfen von ihnen nicht verlangen, dass sie ein Langzeitvisum, eine Aufenthaltskarte oder ein Visum zur Familienzusammenführung beantragen. Die Mitgliedstaaten müssen alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um diesen Personen die Beschaffung der erforderlichen Visa zu erleichtern. Sie können Servicerufnummern einrichten oder die Leistungen eines externen Unternehmens zur Vereinbarung von Terminen in Anspruch nehmen. Sie müssen Familienangehörigen aus Drittstaaten aber auch die Möglichkeit bieten, sich direkt an das Konsulat zu wenden. Zu einer Bearbeitungszeit für Visumanträge von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen, die 15 Tageüberschreitet, sollte es „nur in begründeten Ausnahmefällen“ kommen (vgl. KOM/2009/0313 endg.).
Hieraus folgern wir, dass bei derartigen Verfahren nicht höhere Anforderungen an Urkunden und Dokumente gemacht werden dürfen, als dies bei anderen gleichgelagerten (Visa) Anträgen der Fall wäre.
So liegt uns etwa ein Fall vor, bei welchem eine europäische Botschaft in einem Drittstaat zu den Einreisevoraussetzungen einer erweiterten Familienangehörigen befragt wurde.
Hierbei ist auch zu erwähnen, dass der betreffende Mitgliedsstaat durch eine französische Botschaft in Visa-Angelegenheit vertreten wird. Die Aufforderung einen Termin zur Antragstellung für eine Familienangehörige eines Unionsbürgers zu erteilen wurde unter Verweis auf TLS Contact verweigert. Die Kontaktaufnahme mit TLS Contact führte auch nach 2 Wochen zu keinem Termin. Auf die Beschwerde zur Nichterteilung eines Termins äußerte sich die französische Botschaft nicht mehr. Wir haben gegen die selbe französische Botschaft bereits im Jahr 2021 eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission wegen Nichterteilung eines Termins eingereicht. 2021 sollte es sich um einen unglücklichen Einzelfall gehandelt haben. Eine Beschwerde für diesen neuen Verstoß ist bereits geplant.
Glücklicherweise ist es Familieangehörigen von Unionsbürgern jedoch stets möglich direkt bei einer Botschaft des betreffenden Mitgliedsstaats einen Antrag zu stellen. Weshalb sodann statt der Vertretung (Frankreich) die Botschaft des betreffenden Mitgliedsstaats im Nachbarland kontaktiert wurde.
Die Botschaft forderte daraufhin zahlreiche Dokumente an und führte im Rahmen einer Vorabkonsultation eine Überprüfung der per E-Mail übersandten Dokumente durch. Bei dieser Prüfung kam die Botschaft unter Einbeziehung der Zentrale im Heimatland zu dem Schluss, dass es sich nicht um eine erweiterte Familienangehörige handeln soll und verwies auf die Möglichkeit einer Antragstellung als Tourist.
Die vorgelegten Urkunden liesen jedoch nach unserer Rechtsauffassung keinen Zweifel daran, dass es sich um eine erweiterte Familienangehörige handelt. Dies insbesondere, da der Unionsbürger zusammen mit seiner Ehefrau und der Antragstellerin im selben Haushalt lebte und bereits für einen Zeitraum von mehr als 24 Monaten sowie vor dem Zuzug in den betreffenden Mitgliedsstaat Unterstützungszahlungen leistete.
Auf die Frage warum die Botschaft zu diesem Ergebnis gekommen ist erhielt der Unionsbürger keine Antwort. Daher forderte der Unionsbürger die Botschaft auf einen Termin zur Antragsstellung eines Visums für Familienangehörige zu erteilen und die Gründe für die vorherige Bewertung zu nennen. Ferner wurde von der Botschaft gefordert die für die Einordnung notwendigen Dokumente und Nachweise konkret zu benenen. Als Antwort auf diese E-Mail wurde zwar ein Termin eingeräumt, doch die Botschaft ging mit keinem Wort auf die gestellten Fragen ein.
Unter Bezugaufnahme auf die Eingangs erwähte Rechtssache C‑83/11 Rahman ist daher festzustellen, dass hier weitaus höhere Hürden gestellt werden als an vergleichbare Visa. Auch wird die Antragstellung durch Nichtmitteilung entscheidungserheblicher Gründe deutlich erschwert, denn es wird weiterhin nicht mitgeteilt, welche Dokumente/Nachweise erwartet werden oder warum die Antragstellerin bei der Vorabkonsultation keine Familienangehörige gewesen sein soll.
Derartige Praktiken dürften daher gegen Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG verstoßen und somit unionsrechtswidrig sein.